Die Chance einer Woche in der „Zelle“

Schon öfters habe ich gelesen, dass eine Gruppe von Frauen in der Stadt St. Gallen die Zelle der hl. Wiborada († 926) wieder aufbauen liess. In die „Zelle“ dieser Inklusin (eingeschlossene Frau) kann man sich jeweils für eine Woche zurückziehen. Und das im Zeitalter des Reisens und der Bewegung! Das gibt es doch nicht. Diese Zelle steht mitten in der Stadt St. Gallen, angebaut an die Kirche St. Mang. Verschiedene Frauen und Männer liessen sich darauf ein und wagten die Woche in der Zelle.

Das Zellendasein wagen

Auch mich selber begann es zu interessieren und herauszufordern. Zwar liebe ich einsame Plätzchen, ruhige Orte und Inseln im Alltag. Aber diese einsame Zelle mitten in der Stadt begann mich zu faszinieren. So wagte ich es im letzten Sommer eine Woche in dieser Zelle zu verbringen, begleitet von einer Frau, die als „Diözesaneremitin“ in der Nähe von St. Gallen lebt und jeden Tag in die Zelle kam, wo wir Eucharistie feierten und ein Begleitgespräch hatten. So entdeckte ich auch mitten in der Stadt die Einsamkeit, mitten im Lärm und im Gewimmel vieler Menschen. Ist das wirklich möglich? Mitten in einer Grossstadt unter Tausenden von Menschen alleine und einsam sein zu können?

Einsamkeit in unserer Gesellschaft

Leider sind einsame Menschen bei uns eine alltägliche Wirklichkeit. Sie wohnen in einem Wohnblock und kennen die Nachbarinnen nebenan nicht, oder haben sie höchstens dreimal von Ferne gesehen. Sie begegnen zwar Menschen, haben aber keine Beziehung zu ihnen. Sie können nicht mit jemand über das reden, was sie beschäftigt. Es ist ihnen nicht möglich ihr Leben mit anderen teilen zu können. So leiden sie an ihrer Einsamkeit und fühlen sich verloren. Leider sind wir zu einer Gesellschaft von Einsamen geworden. Viele Partnerschaften entstehen nur über Partnerbörsen im Internet, Fernsehen und Internet ersetzen oft menschliche Begegnungen und meine Einkäufe lasse ich mir direkt per Post zustellen, ohne dabei einen Menschen zu sehen. Ich bin vereinsamt.


Die Chance fruchtbringenden Alleinseins

Die „Zelle“ in St. Gallen hat mich neu gelehrt, dass ein fruchtbringendes Alleinsein ein hoher Wert sein kann. Sie ist nicht Einsamkeit. Ich wähle Momente des Alleinseins bewusst aus, damit mein Inneres wieder fähig wird, Menschen offen und ehrlich begegnen zu können. So bin ich nicht von Anderem besetzt, sondern bin frei. Genau das lebte auf extreme Weise die hl. Wiborada. Ihre Zelle (und auch die heute nachgebaute Zelle) hat zwei Fenster: Eines in die Kirche zur Gottesbegegnung und ein zweites auf den Platz hinaus zur Begegnung mit den Menschen. Das sind zwei Ausrichtungen. In Ausrichtung auf die Kirche feierte Wiborada Gottesdienste mit und betete still für sich zu Gott. In Ausrichtung auf die Menschen wurde sie zu bestimmten Stunden zur Seelsorgerin für Mönche, Fürsten und einfache Leute, hörte ihnen zu und konnte aus dem Alleinsein in ihrer Zelle Ratschläge geben. Erst die Stille und das Alleinsein ermöglichte es ihr, ganz für einen Menschen da sein zu können und zu hören, was er wirklich sagt.


Fastenzeit als Einübung ins Alleinsein

Das Alleinsein kann mich fähig machen, wieder ganz für Menschen da sein zu können. Das habe ich in der „Zelle“ ganz neu lernen können. Die Fastenzeit ist in der christlichen Kirche die Vorbereitungszeit für das Fest von Ostern. Sie will mich bereiten, damit ich das Wesentliche im Alltag wieder entdecken kann, die Gegenwart Gottes neu erfahre und mein Herz für die Begegnung mit Menschen frei wird. Ich könnte die Fastenzeit zu einer „Zelle“ in meinem eigenen Leben machen, in der ich allein sein darf und Wesentliches wieder neu entdecken kann. Können Sie es sich vorstellen einen Moment in einer solchen „Zelle“ sein zu können und im Alleinsein Neues zu erfahren?

(von Br.Paul Zahner OFM, Näfels)